the berghain column – march 2017

berghain märz 2017 flyer

Entfernung

Die Nadel legt auf einer 12“ bei 45 rpm mindestens 280 Meter zurück, um zehn Minuten Musik abzuspielen. Das ist nur grob überschlagen, aber in der Praxis ohnehin weniger, da nur David Mancuso die Nummer auch wirklich ausspielen ließ. Ob ein Schrittzähler eine Korrelation davon mit den dazugehörigen Tänzen zeigen könnte? Entfernung, Abstand, drei Raumdimensionen plus Zeitachse.

Richie Hawtin gestand vor ca. zehn Jahren in einem Interview, dass er einen Privatjet mieten muss, um drei Auftritte am Tag spielen zu können (Ziel), die Beschränkungen des Raum-Zeitkontinuum ein wenig dehnend (Mittel). Warum das irgendjemand wollen sollte, wurde nicht erörtert. Ein anderer DJ fiel damit auf, dass dessen Agentur Auftritte absichtlich nach der zu ergatternden Statusmeilenzahl seiner bevorzugten Fluggesellschaft auf Interkontinentalflügen buchte, also Berlin – Sao Paulo – Leipzig. Aber Entfernung betrifft nicht nur geografische Größenordnungen. In ibizenkischen Clubs trennten teilweise lediglich 15 mm Rigips die Gäste von den Bargeld-Millionen (hervorragende Breitbandabsorber), die die spanische Steuerfahndung später mit Äxten aus den Wänden befreite.

Ein Geldschein ist weniger als 0,1 mm stark, aber geschätzte 80% der sich in Umlauf befindenden US-Dollarnoten weisen Spuren von Kokain auf. Länge, Tiefe, Breite und weitere Abstraktionen, mit denen wir unsere Lage in der Welt beschreiben, haben eine Erlebnisdimension, die je nach Kontext variieren kann. DJ Harveys Black Cock Label warb deshalb mit dem Slogan „12 Inches of Pleasure.“ Ohne Luftwiderstand würden ein Elefant und ein Geldschein im freien Fall die gleiche Strecke in der gleichen Zeit zurücklegen. Aber die Wirkung liesse sich sehr wohl unterscheiden, besonders wenn der Elefant wütend ist. Zum Bedauern von Clubbetreibern wird erwogen, den 500 Euro Schein (der mit den besten Absorptionswerten, Kaufkraft wie Schalldruck) aus dem Verkehr zu ziehen. Alle Papierwährungen fallen aber historisch betrachtet früher oder später auf null. Bei einer fallenden 12“ kommt es für die Intensität des Aufpralls auf den Inhalt an, weshalb die Anpreisung von „Vinyl only“-Sets merkwürdig an der Frage vorbeigeht, wieso das jemanden interessieren sollte – es sei denn es handelt sich um leere Platten.

Highend DJ Mixer in vollanalogem Aufbau werden manchmal damit angepriesen, dass die Signalwege darin sehr kurz gehalten seien. Wie bei der Fliege: deren Nervenbahnen vom Auge durch das Hirn zu den Flügeln sind so kurz, dass sie sich nicht einfach so erwischen lässt vom Menschen mit seinen ausufernden Neuronennetzwerken und einer Hand, die auf eine Stelle haut, an der die Fliege gerade noch war, aber schon nicht mehr ist. Bei vollanalogen Studiomischpulten wird hingegen gern herausgekehrt, dass sich das Signal durch große Strecken schweren Metalls arbeiten muss und dabei alle digitale Kälte verliert, sofern es vorher von dieser geplagt wurde. Was denn nun?

Im Bereich der Clubarchitektur sind Entfernungen, Laufzeiten, überhaupt bauliche und normative Mittel Teile eines Gesamtkonzepts zur Gestaltung eines emotionalen und sozialen Erlebnisparcours. Es gibt Läden mit labyrinthartigen Raumfluchten, verwaltet mit Armbändchen in zehn Farben. Ich bin mir sicher, dass ich genau da durchmuss, um zur DJ-Kanzel zurückzufinden. „No gold bands in the velvet room“, wiederholt der sympathische Schrank, der den Durchgang bewacht. Er hält dabei eine schwere Taschenlampe in der Hand, die auch zur Herbeiführung von Schädelbasisbrüchen geeignet aussieht. Also wieder die komplette Spirale zurück, durch smaragdene, orange und silberne Zonen, an denen sich jeder mit seinem Schicksalsband ausweisen soll. In der saphirenen Stube finde ich schließlich die Frau mit dem Bändchen „artist care“, die mich in den Raum mit dem Geld führen soll. Der hat kein Farbthema, sondern lediglich eine Vollausstattung mit Leuchtstoffröhren. Jetzt noch den Ausgang finden.