berghain column – november 2017

berghain november 2017

Deadlines

It’s 5 a.m. and I just gave up on trying to sleep. Until noon I’m supposed to submit full details for an event which I ill-advisedly agreed to organise, but whose participants are slow in giving me the information required. Tomorrow’s gig may also not go down as planned. In the meantime I should assemble the distribution data of our next release in a so called info sheet. Then I could address the still open issues of a month-long tour, whose first stop is due in five days. Maybe I should also prepare a couple of tracks to play out tomorrow. Or was it today? The Berghain column is due between yesterday and today. Since it is still dark outside, I believe I’m still on the right side of the deadline. Well, since I can’t sleep I can just as well get to work.

Time is an artificial concept whose link to astronomical cycles makes it appear more rational and objective than our experiences would typically grant for. Similarly abstract and disembodied units such as meter, gram, degree, hertz etc. reliably reproduce numbers on a measuring instrument’s display, but loosely refer to a rather elastic bandwidth of experienced states and consequences. Those measures, designed as absolutes, thus turn out to be far less normative then they are supposed to appear.

Deadlines – once referring to the limits of a geographic domain whose crossing was to be answered with lethal gunfire – are a intermediate phenomenon in which normative and subjective concepts of time are stirred together. As markers on a calendar or clockface they try to resemble firm barriers, which similarly to the laws of physics, shouldn’t allow for negotiations. They are supposed to communicate assumably compulsory requirements of those who set them. In practice, typically these points on a timeline are rather set according to previous experience, habit, assumptions about the nature of a task, or just chance, which all point in the opposite direction to the previous notion of rigidity: Deadlines are set to be ignored. In negotiating social hierarchies it is almost one’s duty to let your opponent crash and burn at the timescale’s marks. Historically, the go-slow strike is one of the most powerful tools exploitees can raise against those who seek to exploit them. It hits the latter right in the Achilles heel of capital accumulation: its time component. Some have watches, the others have time.

Deadlines affect the mental weight and inner structure of tasks and problems most directly. Set a time limit of two hours and complex problems are reduced to their relevant core. Give it four months and the clearest tasks inflate to become highly complex monster problems. Parkinson’s first law of bureaucratic growth thus reads: “Work expands proportionally to the time given for its completion.”

In clubland this can be observed with the time needed for soundchecks. When necessary, a sufficient soundcheck can be completed in ten minutes before doors open. If eight hours are available, out of nowhere delay lines need to be re-set, individual EQ curves matched per speaker, compressors tuned for each channel. Some move speaker cabinets around or re-arrange the furniture, as if there weren’t parties going strong in the exact same setting over the past 80 weeks.

It’s not like these problems are being made up just for the sake of self-aggrandisement or to avoid facing existential loneliness in a hotel room. Additional time on your hands acts as a magnifying lens that brings ever new details and relations into the focus of attention. Each such entity can potentially be highlighted, each relationship between elements can be balanced. Unfortunately, these adjustments push other aspects to the back, which means one ends up being lost in detail instead of getting right the three or four aspects that really matter.

There are people who work eight months on one track, and these tracks never sound good. One reason is that in complex contexts it is impossible to get rid of all existing imbalances and frictions between all possible pairs of elements. There will always be interconnected webs of relationships where setting one thing right undoes the other and vice versa. One example: for physical reasons a piano can’t be tuned perfectly. Among different strings either the relationships between fundamentals or those between harmonics won’t be right. The compromise employed by experienced piano tuners then is to slightly spread the fundamental frequencies. This seems to hit the golden median where conflict between both opposing phenomena has the least effect on what we get to hear.

Generally speaking, limitless micromanagement typically misses the point. Thus having more time for a specific task is a wish whose consequences are often not fully appreciated. Self-imposed deadlines and similar artificial limitations that force one to concentrate on the most important issues are often way better methods to achieve meaningful results.

 

Deadlines

Es ist fünf Uhr morgens und schlafen kann ich nicht mehr. Bis 12 Uhr soll ich vollständige Angaben zu einer Veranstaltung machen, deren Organisation ich mir aufschwatzen lassen habe, zu denen mir die Beteiligten aber nicht rechtzeitig oder nur bruchstückhaft antworten. Ein Auftritt am nächsten Abend droht nicht so zu laufen, wie er sollte. Die Vertriebsdaten einer anstehenden Veröffentlichung soll ich umgehend zusammenstellen und eine einmonatige Tour auf einem anderen Kontinent meldet noch umfassenden Koordinationsbedarf, fünf Tage vor Abflug. Vielleicht sollte ich noch ein paar Tracks für heute zurechtlegen – oder war das morgen? Die Berghain-Kolumne ist zwischen gestern und heute fällig. Da es draussen dunkel ist, bin ich wohl auf der richtigen Seite der Frist; glaube ich. Also kann ich auch gleich arbeiten.

Zeit ist ein künstliches Konzept, dessen Anbindung an astronomische Zyklen eine Objektivität vortäuscht, die wenig mit unseren tatsächlichen Erfahrungen zu tun hat. Ähnlich abstrakte, unkörperliche Einheiten wie Meter, Gramm, Grad, Hertz usw. reproduzieren zwar zuverlässig einen Zeigerstand, aber entsprechen Zuständen innerhalb einer stark schwankenden Bandbreite von Empfindungsgrößen und Konsequenzen. Die als absolut gedachten Maßgrößen sind also keinesfalls so normativ sind, wie sie erscheinen sollen.

Deadlines, was einmal wörtlich Linien bezeichnete, deren Übertreten mit dem Erschiessen beantwortet wurde, sind ein Zwischenphänomen, in dem sich normative und subjektive Konzepte von Zeit vermengen. Als Markierungen auf Ziffernblatt oder Kalender bemühen sie den Anschein einer harten Schranke, die ähnlich den Naturgesetzen keinen Raum für Verhandlungen lässt. Sie sollen vermeintlich zwingende Bedürfnisse der Personen und Organisationen kommunizieren, die sie setzen können. Dass die Punkte auf der Zeitachse letztlich regelmäßig eher aufgrund von Vermutung, Gewohnheit und Zufall gewählt werden, wirkt in die entgegengesetzte Richtung: Deadlines sind dazu da, um ignoriert zu werden. Es ist geradezu eine Pflicht im Aushandeln sozialer Hierarchien, sein Gegenüber am Zeiger zerschellen zu lassen. Der Bummelstreik ist eines der historisch wirksamsten Mittel der Unterdrückten, das an der Achillesferse der Unterdrücker, an der Zeitkomponente des Kapitalertrags, zuschlägt. Die einen haben die Uhren, die anderen die Zeit.

Deadlines greifen direkt auf das mentale Gewicht und die innere Problemstruktur von Aufgaben durch. Setze eine Frist von zwei Stunden und komplexe Aufgaben reduzieren sich von selbst auf das Wesentliche. Räume vier Monate ein und die klarsten Dinge blähen sich zu hochkomplexen Problemen auf. Das erste Parkinsonsche Gesetz des Bürokratiewachstums lautet entsprechend „Arbeit dehnt sich in dem Maß aus, wie Zeit für ihre Erledigung zur Verfügung steht.“

In der Clubwelt lässt sich dies leicht an den Zeiträumen ablesen, die für Soundchecks veranschlagt werden. Erfolgt das Ganze zehn Minuten vor Öffnung der Türen, ist die Anlage schnell eingestellt. Stehen potentiell acht Stunden zur Verfügung, müssen plötzlich Delaylines, individuelle Equalizerkurven und Kompressoren pro Kanal detailliert eingestellt werden. Es werden Boxen hin und her geschoben und umfassende Neuausrichtung des Inventars vorgenommen, als ob in den letzten 80 Wochen dort keine Parties stattgefunden hätten.

Man kann nicht behaupten, dass Probleme einfach erfunden werden, damit sich jemand wichtig machen kann oder um nicht allein auf dem Hotelzimmer in die Abgründe der Existenz schauen zu müssen. Mehr Zeit rückt neue Details und Zusammenhänge in den Fokus der Aufmerksamkeit, und jede dieser Einheiten und Bezüge kann potentiell ins Licht gerückt und ausbalanciert werden.

Dummerweise treten dadurch andere Aspekte zurück, so dass man sich verzettelt statt die drei, vier Dinge auf die es ankommt anzugehen. Es gibt Leute, die acht Monate an einem Track arbeiten, und diese Tracks sind niemals gut. Das liegt unter anderem daran, dass sich in komplexen Zusammenhängen nie alle Widersprüche auflösen lassen. Ein Klavier zum Beispiel kann aus physikalischen Gründen nicht perfekt gestimmt werden. Entweder stimmen die Grundfrequenzen oder aber die Obertöne nicht. Der Kompromiss ist, durch Oktavspreizung die Töne ein wenig auseinanderzuziehen und dadurch gewissermaßen die goldene Mitte zu treffen, in denen der Konflikt am wenigsten zum Tragen kommt.

Es ist müßig, sich in unendlichem Feinschliff zu ergehen. Mehr Zeit zu haben ist daher oft ein Wunsch, dessen Konsequenzen verkannt werden. Selbst gesetzte Deadlines und vergleichbaren Beschränkungen sind viel wirkungsvollere Mittel, um stimmige Dinge zu gestalten.