the berghain column – january 2017

berghain januar 2017

Abstand

In den USA zwingt ein Gesetz Waffenhändler Revolver den Käufern erst nach fünf Tagen auszuhändigen (Homer Simpson: „Aber ich bin jetzt wütend!“). Wie großartig Zeitversatz ist, wird selten gewürdigt. Als DJ hat man noch eine Minute, bevor die bereitgelegte Nummer auf die Lautsprecher übergeht. Man darf sich das noch einmal überlegen – wobei DJs erstaunlich wenig Gebrauch davon machen. Wer singt oder ein Instrument spielt, kennt solchen Luxus nicht. Unter kommunistischen Telekommunikationsbedingungen gab es diverse Vorrichtungen, die es erlaubten, einmal geformte Mitteilungsbedürfnisse noch ein wenig köcheln zu lassen, bevor sie demjenigen serviert wurden, der sie fressen sollte. So waren Telefone gern in Duplex-Schaltungen angelegt: telefonierte der Nachbar, hieß es warten, und umgekehrt. Für ein Ferngespräch von Ost-Berlin nach Hamburg war eine Voranmeldung nötig, vermutlich damit die Stasi mit dem Abhören hinterherkam. Die hohen historischen Verlustraten postalischen Brieftransports haben sicherlich so manche in Eile verfasste Eselei zur Erleichterung des später entblödeten Absenders unterdrückt. Fünf Tage, die vergehen eh wir dem Empfänger eine Aussage ins Gesicht schleudern können, ändern Ton und Inhalt. Eine Vorrichtung, die das Absenden von Emails erst nach einem Tag Bedenkzeit erlauben würde, wäre ein Wundermittel, jeden umgehend schlauer aussehen zu lassen.

Generell gab es Zeiten, in denen wir gezwungen waren, nur sporadisch, tendenziell wenige und oft nur lückenhaft übermittelte Nachrichten zu produzieren (“Telegrammstil”. Stop.). Besser schweigen und als Narr erscheinen, als sprechen und jeden Zweifel beseitigen, lautet ein beliebter Aphorismus in populären Zitatensammlungen. Momentan bekommen wir die Impulsmeldungen aller Welt ungefiltert vorgelegt, und siehe da, es macht sich das Gefühl breit, nur von Trotteln umgeben zu sein. Menschen, die man seit zwanzig Jahren zu kennen glaubt, vertreten plötzlich haarsträubende Standpunkte, äußern abstoßende Meinungen, sind nicht in der Lage einfachste Zusammenhänge zu verstehen und stellen sich generell in einer Art und Weise dar, mit der niemand mit Abitur und ein wenig Selbstachtung assoziiert werden will.

Das Spannende dabei ist, dass es vermutlich allen Beteiligten so geht. 80% befragter Autofahrer halten sich für fahrtechnisch überdurchschnittlich. Mathematisch  unmöglich – der Durchschnitt liegt ja immer bei 50%. Aber wie kann das sein? Unser Gegenüber messen wir am Einzelfall vielleicht harmloser, aber indikativer Dummheit: wer sich bei Kleinigkeiten vertut, dem kann bei wesentlichen Dingen kaum vertraut werden. Wer schlechte Musik mag oder gar macht, kann auch sonst nicht besonders helle sein. Meine eigenen Entgleisungen hingegen blende ich aus im Lichte meiner ansonsten: a) fundamentalen Weisheit und b) makellosen Integrität. Extremer Einzelfall vs. bereinigter Mittelwert. Formung des Selbstbilds und Evaluation anderer fallen dadurch auffällig auseinander. Die Diskrepanz verschwindet gelegentlich, wenn man eigene Äußerungen mit genug Abstand erneut vorgelegt bekommt. Ein Hoch auf die Edit-Funktion.

Wie so oft hat der Club auch hier die passenden Lösungen für die drängenden Probleme unserer Zeit: ist die Musik laut genug (und das Telefon im Schließfach, das jedem Club empfohlen wird zwangsweise bereitzuhalten), wird nicht mehr wirklich geredet, oder zumindest nicht über die Themenkomplexe, die situativ-impulsive Dummheit befördern. Im Club sind alle schön, tiefgründig und wahnsinnig interessant. Nur noch in unseren Bewegungen steckt die Weisheit, die wir auf der Wortebene verloren haben.